Rahmenempfehlungen zur mobilen geriatrischen Rehabilitation vom 01.05.2007

 

Anlage zur Rahmenempfehlung mobile geriatrischen Rehabilitation

4.6 Geriatrische Rehabilitation

Da es in der deutschen Medizin bisher keine allgemein anerkannte und verbindliche Definition des geriatrischen Patienten gibt, ist es schwierig, die Patienten zu erkennen, für die vornehmlich Leistungen der geriatrischen Rehabilitation und nicht solche der indikationsspezifischen (z.B. kardiologischen, neurologischen, orthopädischen) in Frage kommen. Für die fachlich schwierige Einschätzung der medizinischen Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit von Leistungen der geriatrischen Rehabilitation, in Abgrenzung zu indikationsspezifischen Rehabilitationsleistungen, werden daher weitere Hinweise und Informationen benötigt. 

Beim geriatrischen Patienten besteht – aufgrund von Multimorbidität und Komplikationen – die Notwendigkeit gleichzeitiger akutmedizinischer Behandlung bzw. Überwachung und rehabilitativer Maßnahmen. Dabei können die Anteile im Behandlungsverlauf unterschiedlich gewichtet sein. Damit befindet sich der geriatrische Patient mit seinen wechselnden Behandlungsschwerpunkten leistungsrechtlich an der Schnittstelle zwischen Akut- und Rehabilitationsbehandlung. Diese Besonderheiten haben u.a. dazu geführt, dass es für die stationäre Versorgung der geriatrischen Patienten in der Bundesrepublik Deutschland mit Einrichtungen nach § 108 SGB V (Akutgeriatrie, ggf. einschließlich umfassender Anschlussrehabilitation und Einrichtungen nach § 111 SGB V (Geriatrische Rehabilitation) zwei Strukturtypen mit unterschiedlichen Modalitäten der Patienten- bzw. Rehabilitandenzuweisung gibt. In einigen Bundesländern gibt es ausschließlich geriatrische Abteilungen in Akutkrankenhäusern, in anderen Bundesländern findet eine spezielle geriatrische Behandlung nur in Rehabilitationskliniken statt und schließlich finden sich Bundesländer mit einer unterschiedlich gewichteten Mischstruktur von Einrichtungen bis hin zur Existenz von Kliniken mit geriatrischen Abteilungen nach §§ 108 und 111 SGB V unter einem Dach. 

 

Der Leistungsentscheidung bezüglich der geriatrischen Rehabilitation liegen Begutachtungen/ Einschätzungen auf zwei unterschiedlichen Zuständigkeitsebenen zugrunde:

 

  • Zuständigkeitsebene des MDK (Empfehlung zur Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit und Art sowie Dauer der Rehabilitation)

Der/die GutachterIn nimmt i.S. einer Empfehlung dazu Stellung, ob eine Leistung der (geriatrischen) Rehabilitation sozialmedizinisch erforderlich ist, d.h. ob Rehabilitationsbedürftigkeit, Rehabilitationsfähigkeit und eine positive Rehabilitationsprognose auf der Grundlage eines realistischen, alltagsrelevanten Rehabilitationsziels bei einem (geriatrischen) Patienten gegeben sind.

 

  • Zuständigkeitsebene der Krankenkasse (Entscheidung über Art, Dauer, Umfang, Beginn und Einrichtung)

 

Unter Berücksichtigung der von dem/der GutachterIn festgestellten medizinischen Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit entscheidet die Krankenkasse über den Leistungsanspruch und wählt die am besten geeignete Einrichtung der (geriatrischen) Rehabilitation aus. Dabei sind Aspekte der Qualität und Wirtschaftlichkeit sowie regionalspezifische Besonderheiten des Leistungsangebots (ambulante und stationäre geriatrische und indikationsspezifische Rehabilitationseinrichtungen) gebührend zu berücksichtigen. 

 

4.6.1 Was ist Geriatrie?

 

Geriatrie ist das medizinische Fachgebiet für die Alterungsprozesse und die präventiven, diagnostischen, therapeutischen und rehabilitativen Aspekte der Erkrankungen alter Menschen. 

 

Die gesundheitliche Gesamtsituation alter Menschen wird häufig durch das gleichzeitige Vorkommen mehrerer Krankheiten und deren Folgen, altersbedingter Veränderungen sowie gesundheitlich relevanter Lebensumstände und Lebensgewohnheiten geprägt. Dies erfordert speziell auf die Situation der alten und in besonderem Maße hilfsbedürftigen Menschen abgestimmte komplexe Behandlungs- bzw. Rehabilitationsangebote, deren nachfolgend genannte Komponenten entsprechend der Notwendigkeit zu kombinieren sind:

 

  • Kontinuierliche ärztliche Diagnostik, Behandlung und Teamführung,

  • Maßnahmen der Pflege mit Schwerpunkt der aktivierend-therapeutischen Pflege,

  • Maßnahmen der Krankengymnastik und Bewegungstherapie,

  • Maßnahmen der Physikalischen Therapie,

  • Ergotherapie,

  • Maßnahmen der Logopädie (auch Schluckstörungen),

  • Neuropsychologische Behandlung,

  •  Psychologische und psychotherapeutische Behandlung,

  • Soziale Beratung und

  • Ernährungsberatung.

 

Die Versorgung von Patienten in geriatrischen Einrichtungen erfolgt nach einer speziellen „Fachphilosophie“, an deren Beginn ein multidimensionales geriatrisches Assessment (siehe Abschnitt 4.6.8) als diagnostischer Prozess steht. Dieses dient dem Ziel, medizinische und psychosoziale Probleme und Ressourcen bei alten Menschen systematisch und umfassend zu objektivieren und zu quantifizieren. Darauf aufbauend wird unter Einbezug von Patient und Angehörigen ein umfassender Plan für die weitere Behandlung und Betreuung entwickelt. Auch die Zusammenarbeit der an der Behandlung beteiligten Berufsgruppen in ärztlich geleiteten interdisziplinären therapeutischen Teams ist charakteristisch für die geriatrische Behandlungsweise.

 

4.6.2 Wer ist ein geriatrischer Patient/Rehabilitand?

 

Nicht jeder ältere Patient ist ein geriatrischer Patient. Im Sinne dieser Begutachtungs-Richtlinie wird von einem geriatrischen Patienten ausgegangen, wenn beide nachfolgend genannten (Identifikations-) Kriterien erfüllt sind:

  • geriatrietypische Multimorbidität

und

  • höheres Lebensalter (in der Regel 70 Jahre oder älter; Abweichungen von diesem strikten Kriterium sind möglich, bedürfen jedoch einer Begründung).

 

Erfüllt der so charakterisierte geriatrische Patient die Indikationskriterien für die geriatrische Rehabilitation, wird aus ihm ein potenzieller geriatrischer Rehabilitand

 

Dabei ist zu berücksichtigen, dass – vor allem auf Grund der Vielfalt und Vielgestaltigkeit der medizinischen und psychosozialen Betreuungserfordernisse beim alten Patienten – eine in jedem Fall eindeutige und reproduzierbare Differenzierung zwischen den Indikationen für eine geriatrische und indikationsspezifische Rehabilitation allein mit Hilfe dieser Begutachtungs-Richtlinie nicht möglich ist. Es wird eine „Restmenge“ von alten Patienten bleiben, bei denen die genannten Kriterien im Einzelfall durch eine nachvollziehbare Empfehlung des Gutachters/der Gutachterin sinnvoll ergänzt werden müssen.

 

4.6.3 Was heißt geriatrietypische Multimorbidität

 

Geriatrietypische Multimorbidität ist die Kombination von Multimorbidität und geriatrietypischen Befunden bzw. Sachverhalten. Multimorbidität im Sinne dieser Begutachtungs-Richtlinie ist wie folgt definiert:

 

Ein Patient ist multimorbide, wenn er multiple strukturelle oder funktionelle Schädigungen bei mindestens zwei behandlungsbedürftigen Erkrankungen aufweist. Behandlungsbedürftig heißt, dass die aus diesen Erkrankungen entstehenden Gesundheitsprobleme bzw. die resultierenden Schädigungen von Körperfunktionen und/oder Körperstrukturen während der Rehabilitationsleistung engmaschig ärztlich überwacht und bei der Therapie berücksichtigt werden müssen. Dies muss ggf. integrativ erfolgen, d.h. über die Grenzen des eigenen Fachgebiets hinweg. Die integrative Versorgung sollte vorrangig durch einen entsprechend qualifizierten Geriater sichergestellt werden, ggf. sind Ärzte anderer Fachgebiete (z.B. Orthopädie, Urologie) hinzuzuziehen. Das Geriatrietypische der Multimorbidität ist eine Kombination der nachfolgend genannten Merkmalkomplexe a) und b), ggf. in Kombination mit c):

a) Vorhandensein von Schädigungen der Körperfunktionen und -strukturen sowie all-tagsrelevanten Beeinträchtigungen von Aktivitäten (in variabler Kombination) i.S. eines geriatrischen Syndroms, d.h.

  • Immobilität,

  • Sturzneigung und Schwindel,

  • kognitive Defizite,

  • Inkontinenz (Harninkontinenz, selten Stuhlinkontinenz),

  • Dekubitalulcera,

  • Fehl- und Mangelernährung,

  • Störungen im Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt,

  • Depression, Angststörung,

  • chronische Schmerzen,

  • Sensibilitätsstörungen,

  • herabgesetzte körperliche Belastbarkeit/Gebrechlichkeit,

  • starke Sehbehinderung,

  • ausgeprägte Schwerhörigkeit.

Für das geriatrische Syndrom relevante Sachverhalte – außerhalb der Systematik der Schädigungen und alltagsrelevanter Beeinträchtigungen der Aktivitäten – sind

  • Mehrfachmedikation,

  • herabgesetzte Medikamententoleranz,

  • häufige Krankenhausbehandlung (Drehtüreffekt).

Typische antragsrelevante Hauptdiagnosen beim geriatrischen Patienten sind:

  • Zustand nach Schlaganfall,

  • Zustand nach hüftgelenksnahen Frakturen,

  • Zustand nach operativer Versorgung mit Totalendoprothesen von Hüfte und Knie,

  • Zustand nach Gliedmaßenamputation bei peripherer arterieller Verschlusskrankheit oder diabetischem Gefäßleiden.

 

Ebenso finden sich bei geriatrischen Patienten neurologische, kardiopulmonale und muskuloskelettale Erkrankungen wie auch Tumor- und Stoffwechselerkrankungen als Hauptdiagnosen. In der geriatrietypischen Befundkonstellation finden sich beim Patienten weitere Diagnosen, die aber – wie beispielsweise ein gut eingestellter Bluthochdruck oder Diabetes mellitus – nicht zwangsläufig aktuell behandlungs- oder engmaschig überwachungsbedürftig sind. Weitere typische Beispiele sind:

  • M. Parkinson,

  • Parkinson-Syndrom,

  • arterielle Hypertonie,

  • koronare Herzkrankheit mit/ ohne Zustand nach Herzinfarkt,

  • Herzinsuffizienz unterschiedlicher Genese, 

  • degenerative Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates,

  • periphere arterielle Verschlusskrankheit,

  • Diabetes mellitus,

  • chronisch-obstruktive Lungenerkrankung,

  • Demenz und

  • Depression.

Das häufige gleichzeitige Vorkommen der Folgen von somatischen und psychischen Schädigungen und alltagsrelevanten Beeinträchtigungen der Aktivitäten, das einen wesentlichen ursächlichen Faktor für Hilfs- und Pflegebedürftigkeit darstellt, ist besonders zu beachten.

b) Relativ hohes Risiko – gegenüber nicht geriatrischen Patienten – der Einschränkung der Selbstständigkeit im Alltag bis hin zur Pflegedürftigkeit.

c) Relativ hohes Risiko – gegenüber nicht geriatrischen Patienten – von Krankheitskomplikationen (Thrombosen, interkurrente Infektionen, Frakturen, verzögerte Rekonvaleszenz u.a.).

 

4.6.4 Fallbeispiele  

 

Fallbeispiele zur Unterscheidung zwischen geriatrischen und nicht geriatrischen Patienten bei bestimmten Befund-/Faktenkonstellationen mit Hilfe der Kriterien a - c (Indikationskriterien der geriatrietypischen Multimorbidität).

 

Fallbeispiel I

Für eine 74-jährige Patientin mit Schlaganfall (linkszerebral) wird eine Maßnahme zur Anschlussrehabilitation beantragt:

Befund-/Faktenkonstellation 1

Diagnosen/Schädigungen:

Beinbetonte Lähmung der rechten Körperhälfte.
Weitere: arterielle Hypertonie, absolute Arrhythmie.

Beeinträchtigungen der Aktivitäten und/oder der Teilhabe:

  • Gehen (Strecke von 500 m nicht möglich),
  • Treppensteigen,
  • Ankleiden
  • persönliche Hygiene,
  • Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel,
  • Barthel-Index 60 Punkte,

Kontextfaktoren:

  • Zubereitung warmer Mahlzeiten,
  • Erledigung von Geschäftsangelegenheiten und Telefonieren möglich,
  • wohnt mit anderen zu Hause.

 

Befund-/Faktenkonstellation 2

Diagnosen/Schädigungen:

Beinbetonte Lähmung der rechten Körperhälfte.
Weitere: arterielle Hypertonie, Arthrose beider Kniegelenke, Maculadegeneration mit Sehbehinderung beidseits, 
erhebliche kognitive Störungen, chronisches Schmerzsyndrom

Beeinträchtigungen der Aktivitäten und/oder der Teilhabe:

  • Gehen (Strecke von 500 m nicht möglich),
  • Treppensteigen,
  • Ankleiden,
  • persönliche Hygiene und Blasenkontrolle,
  • Zubereitung warmer Mahlzeiten,
  • Erledigung von Geschäftsangelegenheiten,
  • selbstständiges Telefonieren,
  • Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel,
  • Barthel-Index 45 Punkte,

Kontextfaktoren:

  • Versorgung mit Urindauerkatheter,
  • regelmäßige Medikation mit mehr als 5 Arzneimitteln,
  • gehäufte Sturzereignisse in den letzten drei Monaten,
  • wohnt alleine zu Hause.

 

Klassifizierung (Zuordnung zu den Merkmalkomplexen a - c)

 

Befund-/Faktenkonstellation 1:

Es handelt sich nicht um eine geriatrische Patientin, da keine geriatrietypische Multimorbidität vorliegt, d.h.

  • kein eindeutiges geriatrisches Syndrom (a),

  • es bestehen nur geringe Einschränkungen der Selbstständigkeit im Alltag (b) und

  • es liegt kein hohes Risiko von Krankheitskomplikationen vor (c).

Befund-/Faktenkonstellation 2:

 

Es handelt sich eindeutig um eine geriatrische Patientin, da geriatrietypische Multimorbidität vorliegt, d.h.

  • ein ausgeprägtes geriatrisches Syndrom (Hemiplegie, Sehbehinderung, Dauerkatheter) (a),

  • es bestehen erhebliche Einschränkungen der Selbstständigkeit im Alltag (arthrosebedingte Mobilitätseinschränkung) (b) und

  • es liegt ein relativ hohes Risiko von Krankheitskomplikationen (z.B. Stürze, Infektionen der ableitenden Harnwege u.a.) vor (c).

 

Fallbeispiel II

Für einen 80-jährigen Patienten wird nach Versorgung mit einer Hüftgelenk-Totalendoprothese rechts eine Leistung zur Anschlussrehabilitation beantragt:

Befund-/Faktenkonstellation 1

Diagnosen/Schädigungen:

Hüft-TEP wegen erheblicher Arthrose.
Weitere: medikamentös gut eingestellter Bluthochdruck, Hüftgelenksarthrose links, Z.n. Herzinfarkt vor 10 Jahren bei stabiler koronarer Herzerkrankung.

Beeinträchtigungen der Aktivitäten und/oder der Teilhabe:

  • Einschränkung der Beweglichkeit des rechten Hüftgelenks,
  • des Gehens,
  • Wechsel der Körperstellung,
  • persönliche Hygiene,
  • Ankleiden,
  • Barthel-Index 80 Punkte.

 

Befund-/Faktenkonstellation 2

Diagnosen/Schädigungen:

Hüft-TEP wegen Oberschenkelhalsfraktur nach Sturz bei häufigen Stürzen in der letzten Zeit.
Weitere: cerebrovaskuläre Insuffizienz mit Schwindel, Zustand nach Schlaganfall mit residualer geringgradiger Hemiparese links vor 3 Jahren, Herzinsuffizienz

Beeinträchtigungen der Aktivitäten und/oder der Teilhabe:

  • Gehen (Strecke von 500 m nicht möglich),
  • Treppensteigen,
  • Ankleiden,
  • Barthel-Index 50 Punkte,

Kontextfaktoren:

  • wiederholte Krankenhausbehandlung in den letzten 3 Jahren,
  • regelmäßige Medikation mit mehr als 5 Arzneimitteln.

 

Klassifizierung (Zuordnung zu den Merkkomplexen a - c)

 

Befund-/Faktenkonstellation 1

 

Es handelt sich nicht um einen geriatrischen Patienten, da keine geriatrietypische Multimorbidität vorliegt, d.h.

  • kein geriatrisches Syndrom (a),

  • es liegt nur eine geringe Einschränkung der Selbstständigkeit im Alltag vor (b) und

  • es besteht kein hohes Risiko von Krankheitskomplikationen (c).

Befund-/Faktenkonstellation 2

 

Es handelt sich eindeutig um einen geriatrischen Patienten, da geriatrietypische Multimorbidität vorliegt, d.h.

  • ausgeprägtes geriatrisches Syndrom (Fraktur, cerebrovaskuläre Insuffizienz, Herzinsuffizienz, Multimedikation) (a),

  • es bestehen Einschränkungen der Selbstständigkeit im Alltag (b) und

  • es liegt ein relativ hohes Risiko von Krankheitskomplikationen (z.B. Stürze bei Schwindelzuständen und Zustand nach Resthemiparese) vor (c).

 

4.6.5 Indikationskriterien der geriatrischen Rehabilitation

 

Liegen bei einem alten Menschen

  • Rehabilitationsbedürftigkeit,

  • Rehabilitationsfähigkeit,

  • alltagsrelevante realistische Rehabilitationsziele und

  • eine positive Rehabilitationsprognose 

vor, können indikationsspezifische Rehabilitationsleistungen (z.B. kardiologische, neurologische Rehabilitation oder Rehabilitation bei muskuloskeletalen Erkrankungen) oder eine geriatrische Rehabilitation in Betracht kommen.

 

Der Inhalt der oben genannten Begriffe entspricht den in der Einführung (siehe Abschnitt 1.4) genannten Definitionen. Im Hinblick auf die Besonderheiten der geriatrischen Rehabilitation werden sie weiter erläutert und konkretisiert. Rehabilitationsbedürftigkeit (siehe Abschnitt 1.4.1)

Für den geriatrischen Patienten alltagsrelevant sind insbesondere:

 

  • Selbstständigkeit beim Essen und Trinken,

  • Selbstständigkeit in der persönlichen Hygiene,

  • Selbstständigkeit in der Mobilität,

  • Selbstständigkeit in der Kommunikation,

  • selbstständige Gestaltung einer angemessenen Beschäftigung und

  • Selbstständigkeit in der Gestaltung und Aufrechterhaltung der sozialen Integration.

Entsprechende Beeinträchtigungen der Aktivitäten betreffen vor allem

  • die Selbstversorgung (z.B. Ernährung, Körperpflege, Exkretion), deren Beeinträchtigung zur Abhängigkeit von fremder Hilfe (Pflegebedürftigkeit) führen kann,

  • die Fortbewegung, deren Beeinträchtigung ein Leben der Patientin/des Patienten außerhalb ihrer/seiner Wohnung verhindern und so zu deren/dessen sozialer Isolation führen kann,

  • das Verhalten, z.B. als Folge einer vorübergehenden Verwirrtheit, dessen Beeinträchtigung zu Störungen in der Orientierung und sozialen Integration führen kann,

  • die Kommunikation (z.B. Sprachverständnis, Sprachvermögen, Hören, Sehen) mit der Folge der Beeinträchtigung der örtlichen/räumlichen Orientierung,

  • die körperliche Beweglichkeit, deren Einschränkung z.B. zu Beeinträchtigung der Selbstversorgung führen kann, die Geschicklichkeit (z.B. bei manuellen Aktivitäten), deren Einschränkung z.B. zu

  • Beeinträchtigungen der Beschäftigung/Haushaltsführung führen kann, die Strukturierung des Tagesablaufes, die zu vielfältiger Beeinträchtigung der Teilhabe führen kann.

 

Wesentliche Hinweise auf manifeste oder drohende Beeinträchtigungen sind z.B.:

 

  • der Bezug bzw. die Beantragung von Leistungen der Pflegeversicherung,

  • der/die AntragstellerIn lebt im Pflegeheim,

  • eine amtlich bestellte Betreuung,

  • die Verwendung von Hilfsmitteln (z.B. Rollstuhl, Rollator, Inkontinenzhilfen).

Die Rehabilitationsbedürftigkeit ist nicht gegeben beim Vorliegen des nachfolgend genannten Ausschlusskriteriums:

 

Kurative oder ausschließlich pflegerische bzw. andere Maßnahmen sind angezeigt bzw. ausreichend, z.B.

  • Behandlung durch Hausarzt/Facharzt,

  • Krankenhausbehandlung,

  • Verordnung von Heil- und Hilfsmitteln,

  • aktivierende Pflege,

  • häusliche Einzelfallberatung/Pflegekurse.

 

Rehabilitationsfähigkeit (siehe Abschnitt 1.4.2)

 

Bei geriatrischen Patienten sind jedoch Besonderheiten der Rehabilitationsfähigkeit zu beachten. Sie verfügen im Unterschied zu Patienten, für die eine indikationsspezifische Rehabilitation in Betracht kommt, über eine herabgesetzte körperliche, psychische oder geistige Belastbarkeit und zeichnen sich durch größere Hilfsbedürftigkeit aus. Damit auch diese Patienten die erforderlichen, auf ihre speziellen Bedürfnisse zugeschnittenen Rehabilitationsleistungen erhalten, sind die nachstehenden niedrigschwelligeren (Einschluss-) Kriterien sowie spezifische (Ausschluss-) Kriterien für die Indikationsstellung einer geriatrischen Rehabilitation zu berücksichtigen. Geriatrische Rehabilitationsfähigkeit ist dann gegeben, wenn alle nachfolgend genannten (Einschluss-) Kriterien erfüllt sind:

 

  • Die vitalen Parameter sind stabil, 

  • die bestehenden Begleiterkrankungen, Schädigungen der Körperfunktionen und -strukturen und typischen Komplikationen können vom ärztlichen, pflegerischen und therapeutischen Personal der geriatrischen Einrichtung behandelt werden sowie

  • die Stabilität des Kreislaufs und die allgemeine psychische und physische Belastbarkeit des Patienten erlauben, dass er mehrmals täglich aktiv an rehabilitativen Maßnahmen teilnehmen kann. 

 

Die geriatrische Rehabilitationsfähigkeit ist nicht gegeben, wenn mindestens eines der nachfolgend genannten (Ausschluss-) Kriterien erfüllt ist:

  • Fehlende Zustimmung des Patienten zur Rehabilitation,

  • fehlende oder nicht ausreichende Belastbarkeit, die die aktive Teilnahme verhindert (z.B. nach Frakturen und nach Gelenkoperationen), Stuhlinkontinenz, wenn diese Ausdruck einer weit fortgeschrittenen geistigen und körperlichen Erkrankung ist,

  • Begleiterkrankungen bzw. Komplikationen, die eine aktive Teilnahme an der Rehabilitation verhindern, z.B.

- Desorientiertheit,
- Weglauftendenz,
- erhebliche Störung der Hör- und Sehfähigkeit,
- Lage und Größe eines Dekubitus,
- Probleme am Amputationsstumpf,
- schwere psychische Störungen wie schwere Depression oder akute Wahnsymptomatik.

 

Rehabilitationsziele (siehe Abschnitt 1.4.3)

 

Das allgemeine Rehabilitationsziel der Geriatrie ist die dauerhafte Wiedergewinnung, Verbesserung oder Erhaltung der Selbstständigkeit bei den alltäglichen Verrichtungen, damit ein langfristiges Verbleiben in der gewünschten Umgebung möglich wird.
Konkrete alltagsrelevante Rehabilitationsziele können in diesem Zusammenhang z.B. sein:

 

  • Erreichen der Stehfähigkeit,

  • Erreichen des Bett-Rollstuhl-Transfers,

  • Verbesserung der Rollstuhlfähigkeit,

  • Erreichen des Toilettenganges/persönliche Hygiene,

  • selbstständige Nahrungsaufnahme,

  • selbstständiges An- und Auskleiden,

  • Gehfähigkeit über mehrere Treppenstufen,

  • Gehfähigkeit innerhalb und außerhalb der Wohnung,

  • Tagesstrukturierung.

Positive Rehabilitationsprognose (siehe Abschnitt 1.4.4)

Der/die GutachterIn muss auf der Grundlage seiner/ihrer klinischen Erfahrung einschätzen, ob die Leistung der geriatrischen Rehabilitation, bezogen auf ein realistisches Rehabilitationsziel, Erfolg versprechend ist. Eine positive Rehabilitationsprognose ist anzunehmen, wenn mindestens eines der nachfolgend genannten Kriterien zutrifft:


  • Beseitigung/alltagsrelevante Verminderung der Beeinträchtigung(en) der Aktivitäten durch Verbesserung der

  • Selbsthilfefähigkeit sind erreichbar,

  • Kompensationsmöglichkeiten zur Alltagsbewältigung sind mit nachhaltigem Erfolg anzuwenden (trainierbar) und/oder

  • Adaptionsmöglichkeiten, welche die Beeinträchtigungen der Teilhabe vermindern, können erfolgreich eingeleitet werden.

Unter kritischer Würdigung des individuellen Grades von Rehabilitationsfähigkeit und unter Berücksichtigung der positiven Rehabilitationsprognose wird das realistische all-tagsrelevante Rehabilitationsziel / werden die realistischen alltagsrelevanten Rehabilitationsziele aus den manifesten Beeinträchtigungen der Aktivitäten oder den drohenden bzw. manifesten Beeinträchtigungen der Teilhabe abgeleitet, die den Patienten in der selbstständigen Bewältigung und Gestaltung der Lebensbereiche beeinträchtigen, die als Grundbedürfnisse menschlichen Daseins beschrieben werden.

 

Der unter Berücksichtigung der Kontextfaktoren anzustrebende Grad der Selbstständigkeit ergibt sich aus der Alltagskompetenz, welche der Patient/die Patientin vor Auftreten der Beeinträchtigungen der Aktivitäten oder Teilhabe hatte und somit die aktuelle Rehabilitationsbedürftigkeit begründet.

 

4.6.6 Formen der geriatrischen Rehabilitation

 

Die Struktur der Einrichtungen, die Qualifikation der behandelnden Personen, die organisatorischen und zeitlichen Abläufe der Behandlungsprogramme müssen auf die besonderen Bedürfnisse des geriatrischen Rehabilitanden ausgerichtet sein. Die in den einzelnen Bundesländern nicht einheitlichen vertraglichen Regelungen (Akutgeriatrie im Krankenhaus, Geriatrie im rehabilitativen Bereich) sind zu beachten. Auch die regional unterschiedlichen Versorgungsstrukturen (vorwiegend stationär) sowie die in der Praxis inhaltlich und qualitativ bestehenden Unterschiede der geriatrischen Versorgungsangebote sind zu berücksichtigen. 

 

Ambulante geriatrische Rehabilitation 

 

Es gelten neben den medizinischen Voraussetzungen folgende individuelle Voraussetzungen für die Durchführung einer ambulanten geriatrischen Rehabilitation:

 

  • Der/die RehabilitandIn muss die für eine ambulante Rehabilitation erforderliche Mobilität besitzen.

  • Die Rehabilitationseinrichtung muss in einer zumutbaren Fahrzeit erreichbar sein.

  • Die häusliche sowie sonstige medizinische Versorgung des Rehabilitanden/der Rehabilitandin muss sicher gestellt sein.

Stationäre geriatrische Rehabilitation

Eine stationäre geriatrische Rehabilitation ist indiziert, wenn neben den medizinischen Voraussetzungen

  • die Kriterien für eine ambulante geriatrische Rehabilitation nicht erfüllt sind,

  • Art und Grad der Schädigungen und Beeinträchtigungen der Aktivitäten und der Teilhabe durch eine ambulante geriatrische Rehabilitation nicht adäquat behandelt werden können,

  • der/die RehabilitandIn immobil ist,

  • die Notwendigkeit der zeitweisen Herausnahme aus dem sozialen Umfeld besteht,

  • die Notwendigkeit pflegerischer Betreuung und ständiger Überwachung besteht.

 

4.6.7 Empfehlungen von Leistungen der (geriatrischen) Rehabilitation

 

Die sozialmedizinischen Begutachtungs- und Bewertungsschritte des Gutachters/der Gutachterin sind aus dem folgenden Entscheidungsdiagramm (Empfehlung von Leistungen der (geriatrischen) Rehabilitation) ersichtlich. Das Ergebnis dieses Entscheidungsprozesses ist die Empfehlung des Gutachters/der Gutachterin, ob

  • eine Leistung der geriatrischen oder indikationsspezifischen Rehabilitation indiziert ist,

  • die indizierte Leistung stationär oder ambulant durchgeführt werden sollte,

  • ggf. eine von der Regeldauer abweichende Dauer in Betracht kommt, wobei eine Über- bzw. Unterschreitung der Regeldauer zu begründen ist (siehe Abschnitt 5.2).

 

Bei der Umsetzung der sozialmedizinisch fundierten Zuweisungsempfehlung für die (geriatrische) Rehabilitation durch die Krankenkasse ist auch zu berücksichtigen, ob die benötigte geeignete Versorgungsstruktur regional vorhanden ist. Steht diese nicht zur Verfügung, so wird empfohlen, den geriatrischen Rehabilitanden in eine geeignete Einrichtung der indikationsspezifischen Rehabilitation einzuweisen.

 

Abbildung „Empfehlungen von Leistungen der (geriatrischen) Rehabilitation
– Begutachtungs- und Bewertungsschritte –

 

 

1) ggf. Alternativvorschläge
2) wenn keine geeignete geriatrische Einrichtung zur Verfügung steht (Entscheidung der Krankenkasse)

 

4.6.8 Informationsquellen für MDK-GutachterInnen und KrankenkassenmitarbeiterInnen – Relevante Ausgangsdaten für die gutachterliche Empfehlung einer (geriatrischen) Rehabilitation

Neben den auch für Rehabilitationsleistungen allgemein erforderlichen Informationen sind für die Begutachtung eines Antrages auf geriatrische Rehabilitationsleistungen insbesondere nachfolgende Fragen zu berücksichtigen:

 

  • Handelt es sich um einen multimorbiden Patienten?

  • Gab es Komplikationen im bisherigen Behandlungsverlauf?

  • Ist der Patient in den letzten drei Monaten gestürzt?

  • Nimmt der Patient regelmäßig mehr als 5 verschiedene Medikamente ein?

  • Liegen kognitive oder psychische Störungen vor?

  • Schmerzen?

  • Sonstige erhebliche Störungen bzw. Versorgungs-/Betreuungsprobleme?

  • Tracheostoma?

  • PEG?

  • Blasenkatheter?

  • Anus praeter?

  • Prothesen?

  • Dialyse?

  • Blindheit?

  • Barthel-Index?

  • Wie ist die soziale Situation?

  • Wo lebt der Patient?

  • Ist die häusliche Versorgung sichergestellt?

  • Ist die Betreuung von Amts wegen erforderlich, eingeleitet oder bereits erfolgt?

 

Auch im Rahmen der Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach SGB XI hat der Medizinische Dienst u.a. Feststellungen darüber zu treffen, ob und in welchem Umfang Maßnahmen zur Beseitigung, Minderung oder Verhütung einer Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit einschließlich der medizinischen Rehabilitation geeignet, notwendig und zumutbar sind.

 

Ein wesentlicher Anteil der für die gutachterliche Empfehlung relevanten Ausgangsdaten kann dem Formulargutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach SGB XI (vgl. Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI Buch des Sozialgesetzbuches vom 21. März 1997) entnommen werden.

Den einzelnen Abschnitten des Formulargutachtens sind folgende Hinweise zu entnehmen:

 

a) Hinweise auf Rehabilitationsbedürftigkeit und Rehabilitationsfähigkeit können aus den Angaben zu Punkt 3 „Gutachterlicher Befund“ entnommen werden.

 

b) Hinweise zur positiven Rehabilitationsprognose können u.U. in Punkt 2.3 „Pflege-relevante Vorgeschichte (Anamnese)“ enthalten sein, z.B. Angaben über frühere Leistungen der ambulanten oder stationären Rehabilitation. Voraussetzung für eine Einschätzung der Rehabilitationsprognose ist die Dokumentation der pflegebegründende(n) Hauptdiagnose(n) bzw. weiterer sozialmedizinisch relevanter Diagnosen im Pflegegutachten.

 

c) Hinweise zu ggf. erforderlichen Rehabilitationsleistungen können aus den Angaben zu Punkt 6.1 "Präventive Maßnahmen/Therapie/Leistungen zur medizinischen Rehabilitation" entnommen werden.

 

Eine weitere wichtige Informationsquelle stellen Assessmentinstrumente dar. Sie sollten – soweit solche aktuell vorliegen – berücksichtigt werden.

 

Assessments dienen der systematischen und quantifizierbaren Erhebung der Funktionsfähigkeit zu einem definierten Zeitpunkt anhand standardisierter Instrumente. Sie finden teilweise bereits im niedergelassenen Bereich oder in Krankenhäusern, vor allem in der Geriatrie, Anwendung. Das gebräuchlichste Assessmentinstrument im Rahmen der geriatrischen Rehabilitation ist der

 

Er misst die unmittelbaren körperlichen Selbstversorgungsfähigkeiten. Der Anwendungsstandard hierzu ist das Hamburger Einstufungsmanual. Hinweise zur Ergebnisinterpretation und Aussagekraft geriatrietypischer Assessmentinstrumente finden sich unter www.kcgeriatrie.de\assessment.htm 

 

Weitere, häufig eingesetzte standardisierte Instrumente sind: